Wie KI und maschinelles Lernen Branchen transformieren, die Geodaten nutzen

Author: Russell Bollig ist Senior Director of Solutions bei Multivista, einem Unternehmen von Hexagon. John Welter ist Senior Director of Solutions bei Multivista, einem Unternehmen von Hexagon


Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen gewinnen bei räumlichen Anwendungen zunehmend an Bedeutung und werden die operativen Strategien der Bau- und Infrastrukturbranche transformieren. Wim van Wegen von GIM International hat mit Russell Bollig und John Welter von Hexagon’s Geosystems Division ein Gespräch über den Einfluss von KI auf Geodatenanwendungen geführt.

KI scheint in der Lage zu sein, die Entwicklung in vielen Bereichen des Lebens und der Wirtschaft deutlich voranzutreiben. Inwieweit hat Hexagon’s Geosystems Division bereits KI und maschinelles Lernen in sein Produktportfolio integriert, und welche zusätzlichen Optionen sehen Sie, um diesen Trend weiter auszubauen?

Russell Bollig (RB): Die Geoindustrie umfasst verschiedenste Disziplinen wie 3D-Laserscanning oder UAV-Kartierung durch Drohnen, mit denen sehr große Datensätze erfasst werden. KI-Technologie kann die Auswertung und Registrierung sowie das Rendering dieser Datensätze beschleunigen und die entsprechenden Kosten senken. Durch die rasche und genaue Datenanalyse sind unsere Kunden in der Lage, täglich bessere, schnellere und sehr fundierte Entscheidungen treffen.

John Welter (JW): Wenn wir an Luftkartierung und die enormen Mengen erfasster Daten denken, bietet sich eine KI-gestützte Auswertung geradezu an. Beispielsweise setzen wir KI derzeit intensiv zur Klassifizierung von LiDAR- Punktwolken sowie zur Erstellung von 3D-Mesh und Orthophotomosaik ein. Während KI den Workflow für bestehende Lösungen beschleunigt und ihre Qualität insgesamt verbessert, gibt es auch Produkte, die erst durch KI möglich werden.

Im Jahr 2016 hat Hexagon Multivista übernommen. Welche Rolle hat Multivista seither bei der Implementierung von Innovationen in der Baubranche gespielt?

RB: Als Anbieter von cloudbasierter Software für Baudokumentation sowie Dienstleistungen für Bilddokumentation auf Basis verschiedener Sensortechnologien, nutzen wir Synergien zwischen Multivista und vielen anderen Unternehmen von Hexagon. Aus dieser intensiven Zusammenarbeit sind schon interessante Innovationen hervorgegangen. Wichtige Ansatzpunkte waren dabei immer die Vernetzung von Technologien zur Verbesserung von Workflows sowie die Kosteneffizienz. Einen besonderen Schwerpunkt haben wir auf die Einführung von BIM (Building Information Modelling) gelegt und in Zusammenarbeit mit Leica Geosystems, einem weiteren Unternehmen von Hexagon, das Multivista BIM Program für Dienstleistungen im Bereich Scanning und Modellierung eingeführt. Allein im vergangenen Jahr haben wir über zwei Millionen Quadratmeter Gebäudefläche gescannt und modelliert. Für viele unserer Kunden sind Scanning und Modellierung noch ziemlich neu. Deshalb ist es wichtig, sie von den Vorzügen dieser Technologien zu überzeugen. Im Bereich KI und maschinelles Lernen integrieren wir auch vielfach schon KI-Modelle zur Bilderkennung. Diese Modelle können Bilder analysieren, um daraus Informationen zu gewinnen. Geospatial Content Solutions (GCS) ist ein weiteres Unternehmen von Hexagon, das über 15 Jahre Erfahrung mit künstlicher Intelligenz mitbringt, und mit dem wir an der Entwicklung und Umsetzung solcher KI-Lösungen arbeiten. Zunächst hatten wir uns vorgenommen, mithilfe von KI Brandschutzthemen anzugehen: Wir wollten herausfinden, welche baulichen Aspekte und Materialien Gebäudebrände wirksam eindämmen können. Diese Maßnahmen können Leben retten, aber die korrekte bauliche Umsetzung ist nicht leicht. Mit der Ende 2021 veröffentlichten Brandschutzlösung erfassen wir Bilder der Zwischendecken, analysieren sie binnen 24 Stunden und stellen unseren Kunden dann eine Mängelliste zur Verfügung. Innerhalb eines Jahres haben wir bereits mehrere Quadratkilometer an Gebäudeflächen erfasst und analysiert.

JW: KI und maschinelles Lernen entwickeln sich in BIM, Architektur, Maschinenbau und Bauwesen sowie anderen räumlichen Anwendungen mittlerweile zum neuen Standard, und wir haben bereits weitere KI-Tools in der Pipeline.

 

Welche weiteren Anwendungsbereiche ergeben sich durch interessante Innovationen wie Helmkameras und Roboterhunde? Gibt es im Zusammenhang mit KI noch weiteres Potenzial, um die Prozessabläufe in der Bau- und Infrastrukturbranche zu revolutionieren?

RB: KI-gestützte Lösungen sind eine ausgezeichnete Möglichkeit, dem heutigen Arbeitskräftemangel zu begegnen. Auch bei unseren täglichen Routinearbeiten können sie uns kostbare Zeit einsparen. Computer Vision, eine KI, die reguläre 2D- oder 360-Grad-Bilder auswerten kann, unterstützt Effizienzsteigerungen am Bau ideal. Wir können bereits Bilder dahingehend analysieren, welche Materialien verbaut wurden, und dann auch Qualitätskontrollen dieser Materialien durchführen. Schon bald werden wir auch den Fortschritt von Bauarbeiten überwachen können. Wöchentliche und monatliche Aktualisierungen des Bauzeitplans helfen bei der Optimierung von Koordination und Logistik. Für den Erfolg dieser Technologie sind Datenkonsistenz und -qualität entscheidend. Deshalb erfassen wir für unsere Kunden Fotos vom Baufortschritt und werten diese auch aus. Die Ergebnisse wirken sich entscheidend auf die Planung, Ausführung und Anpassung von Bauvorhaben aus, was wirklich beeindruckend ist.

JW: Alles, was die Nutzung und Interaktion mit Geodaten vereinfacht, trägt zum Nachfrageanstieg bei. Ein gutes Beispiel dafür ist der virtuelle Tourismus, der den Bedarf an exakten digitalen Zwillingen beliebter Reiseziele geweckt hat. Das hilft den „klassischen“ Nutzern, wie z. B. Kommunalbehörden, die in diesem Zusammenhang anfallenden Investitionen zu rechtfertigen. Unser Blue Economy-Projekt auf den Bahamas zur Kartierung und zum Schutz des Seegrasbewuchses vor der Küste wäre ohne KI beispielsweise nicht realisierbar.

Spielt KI im geschäftlichen Kontext eine Rolle, wenn es um die Steigerung der Datennachfrage geht?

JW: Natürlich hat KI völlig neue Geschäfts- modelle zur Finanzierung bisher nicht realisierbarer Projektvorhaben eröffnet. So z. B. das Projekt auf den Bahamas, bei dem sich R-Evolution, die nachhaltige Unternehmensinitiative von Hexagon, mit der gemeinnützigen Organisation Beneath the Waves zusammengeschlossen hat, um einen der weltweit größten natürlichen Kohlenstoffspeicher zu kartografieren. Da die Regierung der Bahamas plant „Blue Carbon Credits“ zum Schutz ihrer Seegraswiesen auszugeben, haben R-Evolution und Beneath the Waves Hexagons luftgestützten bathymetrischen LiDAR-Sensor Leica Chiroptera-5 zur Kartierung dieser Seegraswiesen eingesetzt. Das Finanzierungsmodell für das Projekt basiert auf KI, um Seegrasflächen zu erkennen, abzugrenzen und das Kohlenstoffspeicherpotenzial eines bestimmten Gebiets automatisch zu berechnen. Die traditionellen Nutzer dieser bathymetrischen Daten profitieren sehr davon, dass bessere Daten verfügbar sind, als früher finanzierbar gewesen wären.

RB: Ähnliche Projekte können für verschiedenste Ökosysteme durchgeführt werden, die als natürliche Kohlendioxidspeicher agieren. Doch die Analyse mit KI wird immer die Erhebung hochwertiger räumlicher und anderer Daten im Vorfeld erfordern.


 

In welchen anderen Bereichen können KI-basierte GeoIT-Lösungen insbesondere in Bezug auf den Klimawandel noch unterstützen?

JW: Es gibt unzählige andere Anwendungen, die mithilfe von KI realisiert werden können. Denken wir z. B. an Geodaten, die bislang praktisch nur für GIS verwendet wurden. Dies birgt noch ein großes Potenzial. Mithilfe von KI lassen sich wichtige Informationen bündeln, um kritische Trends bereits im Vorfeld zu erkennen: z. B. schrumpfende Waldflächen, verunreinigte Wasserspeicher oder verwachsene Hoch- spannungsleitungen. Diese Informationen, die früher mühsam manuell zusammengetragen werden mussten, können heute nahezu in Echtzeit automatisiert bereitgestellt werden.

RB: Der Kampf gegen den Klimawandel erfordert die Erfassung und Auswertung enormer Datenmengen. Bei Hexagon’s Geosystems Division sagen wir oft: „Was man nicht messen kann, kann man auch nicht managen“, und dies gilt insbesondere für den Klimawandel. KI hat die Verarbeitung und Modellierung von Daten bereits entscheidend beschleunigt und wird dies auch weiterhin tun. Tatsächlich nutzen bereits die meisten wichtigen Wettermodelle KI, um aussagekräftige Vorhersagen zu erstellen.
 
Inwiefern wird der Einsatz von KI-Technologien die Datenauswertung und -verarbeitung verändern?

RB: KI bedeutet im Wesentlichen die Imple- mentierung von Automatisierung, die Kosten und Manpower reduziert und damit die Effizienz erhöht. Das beste Beispiel dafür am Bau ist der Einsatz von KI zur Erkennung von Abweichungen beim Abgleich von gescannten 3D-Bestandsdaten mit Plänen. Im Geobereich analysiert KI bereits zehntausende Bilder pro Tag als Grundlage für Luftbildkarten, Extraktion von Merkmalen oder zur Sicherung von Qualitätsstandards

 
JW: Das menschliche Gehirn nutzt verschiedene Sinne, um seine Umgebung besser verstehen zu können. Daher überrascht es nicht, dass auch KI-Ergebnisse durch mehrere Datenströme optimiert werden. Unsere Hybridsensoren sind ein ideales Beispiel dafür, dass KI auf der Grundlage der Kombination unterschiedlicher Datenströme – in diesem Fall Bilddaten und LiDAR – bessere Ergebnisse erzielt. Auch bei unseren zukünftigen Luftbildsensoren liegt dieses Prinzip zugrunde. LiDAR erweitert den KI-Input um eine völlig neue Dimension
 

 
Welche Fortschritte sind in puncto Geodaten und maschinelles Lernen noch erforderlich, damit die KI-Technologie ihr volles Potenzial entfalten kann?

JW: Das Ökosystem muss insgesamt weiter reifen. Wir beobachten eine rasche Entwicklung von Open-Source-Frameworks wie PyTorch. Parallel dazu stellen  Cloudanbieter entsprechende Dienste über ein benutzerfreundliches „Platform as a Service“- Modell bereit, was bei der Beseitigung von IT-seitigen Hürden hilft. Unternehmen wie NVIDIA arbeiten kontinuierlich an der Verbesserung von Hardware, die dann noch schneller KI-Ergebnisse liefert. Um die KI-Nutzung einem größeren Anwenderkreis zugänglich zu machen, brauchen wir spezielle Standards für Geodaten. Die aktuellen Standards decken vorwiegend Machine-to-Human- Anwendungen ab, wie GIS zum Streamen von Daten, nicht aber Machine-to-Machine-Standards. Der nächste Meilenstein wird sein, diese GeoKI- Anwendungen auszubauen und das Ökosystem insgesamt zu optimieren

RB: Die Baubranche kann als „Late Adopter“ bezeichnet werden, da sie KI hauptsächlich für deskriptive Analysen einsetzt. Dabei werden zuvor erfasste Bilder oder Datensätze auf Veränderungen analysiert. Allerdings lassen sich durch den Einsatz von KI im Bauwesen zunehmend auch anspruchsvollere Fragestellungen beantworten, auf deren Basis proaktiv fundierte Entscheidungen getroffen werden können. Die Bandbreite reicht von der diagnostischen über die prädiktive bis hin zur präskriptiven Analyse. Wir können dadurch herausfinden, warum etwas passiert ist, und wie etwas künftig vermieden oder sichergestellt werden kann, und auch einen Weg vorgeben, um definierte Ziele zu erreichen. KI am Bau braucht noch Zeit, um sich zu entwickeln und weiter zu etablieren. Hexagon arbeitet bereits intensiv an der Bereitstellung entsprechender Lösungen.
 
Bereits die Nutzung von KI an sich ist ein Lernprozess, der nicht über Nacht erfolgen kann. Welchen Rat würden Sie Unternehmen geben, die KI zur Verbesserung ihrer Prozesse einsetzen möchten?

JW: Beim Erwachsenwerden geht es um den Erwerb von Wissenskomponenten, die aufeinander aufbauen, wobei jede Lektion die Grundlage für die nächste bildet. Den Einsatz von KI sollte man genau so angehen: Jetzt beginnen, klein anfangen, realistische Ziele setzen, und laufend die Ergebnisse evaluieren.

RB: Das hätte ich nicht besser sagen können!

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